
Irgendwo las ich kürzlich diesen Satz: „Das Faszinierendste an der Biografie von Angela Merkel ist ja, dass sie mit ihrer Co-Autorin, Büroleiterin, wichtigsten Mitarbeiterin und engsten Vertrauten Beate Baumann, auch nach 32 Jahren per Sie ist. Und offenbar nicht mal „Sie, Beate“, sondern „Sie, Frau Baumann“.
Und auch die neue Vorstandsvorsitzende von Enercity, dem Energieversorger aus Hannover, Aurélie Alemany hat ihren Mitarbeitern von Anfang an das „Du“ angeboten.
Bei diesen Meldungen musste ich wieder daran denken, dass diese Diskussion mich eigentlich schon sehr, sehr lange verfolgt…
Mitte 2020 verkündete die deutsche Bahn, sie werde für drei Monate testweise ihre Follower auf Facebook und Twitter duzen. Die Rückmeldungen sollen wohl durchaus gemischt gewesen sein; nicht jeder war begeistert. Da der Zuspruch aber doch überwog, bleibt man auf den Social-Media-Kanälen der Bahn beim Duzen. Wenn jemand das nicht möchte, dann werde gesiezt.
Ziemlich zeitgleich schrieb damals Xing:
„(…) vielleicht hast Du es ja schon gelesen: wir führen auf der XING Plattform jetzt offiziell das „Du“ ein. Ab sofort werden wir alle unsere rund 18 Mio. Mitglieder auf xing.com, in unseren Apps, E-Mails und auch am Telefon mit Vornamen und „Du“ ansprechen. Nicht nur wir fühlen uns damit deutlich wohler, sondern auch der Großteil unserer Mitglieder. Eine überwältigende Mehrheit sagt „ja“ zum „Du“ und wünscht sich eine lockerere Ansprache auf XING.
So ganz hat das damals wohl nicht geklappt mit der überwältigenden Mehrheit, denn wenig später ruderte Xing doch wieder etwas zurück: „In der Kommunikation rund um unsere Unternehmenslösungen sieht die Sache (noch) ein bisschen anders aus. Deshalb bleibt das „Sie“ hier erst mal Standard. Im direkten Kontakt mit unseren Kundenberater*innen haben die Beteiligten aber natürlich weiterhin alle Freiheiten, sich auch schon jetzt für das „Du“ zu entscheiden.“
Deutschland verduzt… noch nicht
Persönlich habe ich da die unterschiedlichsten Erlebnisse mit dem Duzen.
Vor einigen Jahren erzählte eine Praktikantin von ihrer Mutter, die sich bitterlich darüber beklagte, dass sie im Ökosupermarkt im fernen Sehnde geduzt werde. Und kurz darauf saß der Marketingmitarbeiter eines Kunden (Mitte 20, Pudelmütze, Vollbart) vor uns und fragte, ob wir uns nicht duzen wollen. „Wenn wir alte Säcke dich nicht abschrecken…“ war meine Antwort.
Und vor noch längerer Zeit hatten wir eine blutjunge Praktikantin (17, ich hatte die Erinnerung an sie eigentlich verdrängt), die sich anfangs ganz schwer damit tat, uns zu siezen, deshalb versuchte sie es eine Weile mit dem Ihrzen.
Als Lehrbeauftragter am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung tat ich mich Anfang der 2000er Jahre mit dem kollektiven Duzen der Studenten schwer. Jahrelang hatte ich gelernt, dass gerade bei Auszubildenden das Siezen ein Akt der Wertschätzung sei…
Es ist also die Frage nach dem Duzen, die mich immer wieder mal beschäftigt. Erst neulich ertappte ich mich wieder dabei, dass ich einen Nachbarn siezte, obwohl wir uns doch beim letzten Straßenfest bereits geduzt hatten. Er sah aber auch genauso aus wie Menschen, die ich mit 20 siezte. Würde ich mir selber heute auf der Straße begegnen, ich hätte wahrscheinlich das gleiche Problem.
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Die Referendare in der Schule der 70-er und die Junglehrer, die forderten uns auf, sie zu duzen. Das war uns suspekt, denn wir kannten den Lehrer nur als natürlichen Feind. In den 80-ern auf der Uni duzten sich alle, Professoren, Dozenten, Hiwis und Studenten. Das ging meinem Freund ErEss und mir so auf den Geist, dass wir uns das „Sie“ anboten. Damit erregten wir Aufmerksamkeit in den Seminaren.
Ikea hat (angeblich) angefangen
Allgemeines Narrativ ist, dass Ikea in den 70er-Jahren mit dem Duzen angefangen habe, als die Firma nach Deutschland kam. Begründet wurde das damals mit der schwedischen Herkunft und der dortigen Unternehmenskultur. Tatsächlich ist in Schweden die höfliche Anredeform seit den 60er-Jahren ausgestorben, der starke Gebrauch des englischen soll schuld sein. Allerdings wird bei Ikea in der Kundenkommunikation im Servicecenter heute gesiezt.
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Verwendet man als Heranwachsender das „Sie“ aus falschem Respekt gegenüber älteren Mitmenschen viel zu häufig, kehrt es sich gegen Lebensmitte um: Das „Du“ wird plötzlich zum Beweis, dass man noch nicht zum alten Eisen zählt. Siezt einen ein Backpacker, dann kann man sich eigentlich schon mal bei der Prostatavorsorge anmelden.
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Merkwürdig war ein Erlebnis in Mexiko. Touristen, die sich am Frühstücksbüffet noch gesiezt hatten, redeten sich zwei Stunden später ohne vorherige Absprache auf der Hochebene mit „Du“ an. Seither versuche ich die Duz-Grenze zu lokalisieren, an der die Konventionen fallen. Sie liegt irgendwo bei 700 Höhenmetern. Wer immer die Duz-Gesetze festlegt (SPD: Du, CDU: Sie, Fitness-Studio: Du, Krankenkasse: Sie), in der Sauna, wo man es am ehesten erwarten müsste, sitzen sich nackte Menschen gegenüber und siezen sich.
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Manchmal hilft übrigens tatsächlich das „Ihrzen“. In bäuerlichen Gegenden noch sehr verbreitet nimmt der Landwirt damit seinem städtischen Gegenüber die Peinlichkeit der Entscheidung ab: „So seids ihr auch einmal wieder hier heroben?“ – „Jo, sind wir“, lautet die korrekte Antwort in Majestätsform.
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Neulich erzählte mir ein Freund, Schüler seines Kurses über „die Grundlagen der Reportage“ duzte er schon am ersten Tag ohne Umschweife. Die fanden das prima. Nur glaubten sie in der Folge, seine Kritiken an ihren abgelieferten Texten seien Diskussionsbeiträge und keine Direktiven. Das Missverständnis ließ sich nicht wieder ausräumen.
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Jene Praktikantin und ich kamen damals übrigens zu dem Schluss, dass das Thema sich wahrscheinlich in zehn Jahren erledigt haben werde und alle sich duzen. Nun, diese zehn Jahre sind jetzt bald rum.
Letztlich muss jedes Unternehmen, jede Chefin und jeder Chef entscheiden, passt das zu mir und der Kultur meines Unternehmens?
Enercity-CEO Aurélie Alemany begründet ihr Duz-Angebot so: „Das entspricht meinem Naturell. Ich denke, dass das „Du“ Distanzen überwindet. Ich habe damit gute Erfahrungen gemacht – auch in Unternehmen“, erklärt sie im Interview mit dem Kundenmagazin „Positive Energie“ von Enercity.
Thorsten Windus-Dörr
(erstmals veröffentlicht am 6. Juni 2020, ergänzt am 9. November und 10. Dezember 2020. Und es wird wohl nicht die letzte Ergänzung sein.)