Was war geschehen? Olaf Scholz hat in der letzten Woche viel Post bekommen, gleich zwei offene Briefe. Allerdings musste er deshalb nicht zum Briefkasten laufen, denn der erste offene Brief kam von Alice Schwarzer und Trägermedium war die „Emma“, der zweite wurde von Ralf Fücks initiiert und erschien in „Die Zeit“. Beide haben einiges an Reaktionen ausgelöst. Das Nachsehen hatte die Post, keiner zahlte Porto.
Beide offenen Briefe beziehen sich auf die schwere Entscheidung des Bundeskanzlers und der Ampelkoalition, der Ukraine schwere Waffen zu liefern.
Der erste Offene Brief (man schrieb den 29. April) appellierte, davon Abstand zu nehmen, um nicht einen Dritten Weltkrieg zu provozieren. Absender sind die Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer, Martin Walser, Juli Zeh, Gerhard Polt und Antje Vollmer, die ehemalige Bundestags-Vizepräsidentin und promovierte Theologin, vielleicht die letzte bekennende Pazifistin der Grünen.
Letzte Woche Mittwoch folgte dann der zweite offene Brief, der Scholz ermutigen wollte, die Waffenlieferungen umzusetzen, um mit Militärpräsenz einen Atomkrieg zu verhindern. Absender unter anderem: Herta Müller, Maxim Biller, Daniel Kehlmann und Eva Menasse.
Am Sonntag griff dann der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Autoren scharf an, bezeichnete ihre Argumentation in der „FAZ am Sonntag” als „arg platt“. Die Intellektuellen hätten sich „schon ein bisschen mehr anstrengen können“. Diesen Vorwurf wies seine Parteikollegin Antje Vollmer weit von sich. Das war noch nicht das Ende, aber vorher ein kleiner Exkurs.
Der offene Brief als PR-Instrument
In der PR kann der offene Brief durchaus ein wirksames PR-Instrument sein. Eingesetzt wird er gerne in der Krisenkommunikation. Es könnte sein, dass seine besondere Wirksamkeit darauf beruht, dass er einen Medienbruch darstellt, die persönliche, intime Form des Briefes wird ja in gewisser Weise missbraucht und der Brief in die Öffentlichkeit gezerrt; er ist damit eine öffentliche Meinungsäußerung. Er tut so, als wäre er ein persönlicher Brief von einer Person an eine andere, gleichzeitig liest die Öffentlichkeit mit. Dieser zweite Adressat macht seine besondere Wirkung aus. Es soll den Adressaten dazu bringen, nachzudenken: Na ja, wenn jetzt alle mitlesen, dann muss ich wohl was tun.
Hat diesmal auch geklappt, denn Kanzler Scholz äußerte sich nach langem Schweigen auf einer 1.-Mai-Veranstaltung.
In den Medien wird der offene Brief auch gerne in zitierter Form als bezahlte redaktionelle Anzeige eingesetzt. Ich selber habe den offenen Brief in meiner langjährigen PR-Praxis nie gebraucht und auch keinem empfohlen. Er war mir nie so recht geheuer und seine Wirkung nicht vorhersehbar. Sicher, in Krisensituationen kann solch ein Brief durchaus zur Deeskalation beitragen, etwa in Form einer öffentlichen Entschuldigung. Er kann auch eine Gegenposition feststellen, die sonst nicht wahrgenommen würde, oder eine Klarstellung sein. Beides kann aber auch für zusätzliche Konfrontation sorgen.
Geschichte des offenen Briefes
Ehrlich gesagt dachte ich, das Kommunikationsmittel des offenen Briefes sei ausgestorben, oder zumindest oldschool, wie man ja heute wohl sagt.
Umso interessanter, dass in der aktuellen Situation der Literaturkritiker Rolf-Bernhard Essig zu Wort kommt, der über den offenen Brief als „publizistische Form von Isokrates bis Günter Grass“ promoviert hat.
Wenn man ganz weit zurückgehen will, dann hat der griechische Gelehrte Isokrates 346 vor Christus schon eine Art öffentlichen Brief geschrieben. Aber für Essig ist der moderne offene Brief der von Émile Zola in der Affäre Dreyfus von 1898: „J’accuse“. Essig meint, dass damit der Intellektuelle als Rolle geboren wurde, und auch als Wort. „Bis heute glaubt man, der Offene Brief könnte ganz viel bewegen, weil damals jener von Émile Zola, so jedenfalls der Mythos, den Hauptmann Dreyfus von der Teufelsinsel geholt habe.“ Émile Zola verfasste seinen offenen Brief „J’accuse“ an den französischen Präsidenten Félix Faure und veröffentlichte ihn in seiner eigenen Zeitung „L’Aurore“ zur Verteidigung des verurteilten Alfred Dreyfus, prangerte dort die Ungerechtigkeit an, wurde dafür selbst verurteilt (und musste ins Exil nach London fliehen). Dreyfus bekam einen zweiten Prozess und wurde rehabilitiert.
Von den digitalen Medien geboostert
Zolas offener Brief hatte also Wirkung. Auch der jetzige Brief hatte Wirkung, oder sagen wir zunächst Widerhall: Scholz kommt aus seinem Schneckenhaus… Kretzschmann pöbelt in der FAS… Vollmer antwortet über die Süddeutsche… der Fall kommt in die Diskussionshallen der bundesdeutschen Talkshow-Elite… Alice Schwarzer erklärt auf „Bild“-TV, im Deutschlandfunk, und im „Morgenmagazin“, was sie mit dem Brief wohl gemeint haben könnte… Der allgegenwärtige Lars Eidinger erklärt auf Instagram, warum er den offenen Brief unterzeichnet hatte… Leider hält auch Dieter Nuhr nicht die Klappe und schreibt ein ellenlanges Facebookposting darüber, was er eigentlich nicht gemeint hat… Die soziologische Allzweckwaffe Harald Welzer erklärte im NDR-Hörfunk und bei Bayern 2 und in irgendeiner Talkshow, was der eigentliche Sinn des offenen Briefes gewesen sei: Die Debatte revitalisieren und der Diskussions-Verengung etwas entgegen zu setzen. Der Mann hat Recht, wie meistens, dafür wurde er dann von „Bild“ als „Professor Hochnäsig“ gegeißelt… Achja, Juli Zeh soll auch irgendwas zur Sache erklärt haben… Allein von Bosbach hörte man nichts dazu.
Am 6. Mai hat sich dann die Schriftstellerin Katja Lange-Müller dazu bekannt, dass sie diesen ersten Brief von der Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer nicht hätte unterschreiben sollen und begründet das in einem Gastbeitrag in der SZ. Die ersten rudern also zurück. War sie geschockt von der Resonanz, die der offene Brief in der heutigen Medienwelt bewirkte?
Ich hoffe, ich habe niemanden vergessen.
Fazit: Und nu?
Werde ich den offenen Brief in mein Beratungsportfolio aufnehmen, aber mit Vorsicht. Ansonsten delektiere ich mich an dem Minikonzert, das Bono und The Edge von U2 in einer Kiewer U-Bahn-Station angestimmt haben: Unter anderem mit einem „offenen Lied“, einer Coverversion von Ben E. Kings legendärem Song „Stand by me” – den die Künstler in „Stand by ukraine” verwandelten.
Weiterlesen…
Samira El Ouassil ist Zeitungswissenschaftlerin und hat einen offenen Brief an den offenen Brief geschrieben; unbedingt lesenswert: https://uebermedien.de/offener-brief/
Rolf Bernhard Essig zu seinem Dissertationsthema Offener Brief: https://www.br.de/offener-brief
Der offene Brief in der „Emma“: https://www.emma.de/offener-brief
Der offene Brief in der „Zeit“: https://www.zeit.de/waffenlieferung-offener-brief
Aktueller Stand: 10.05.2022
Thorsten Windus-Dörr