Gerade blühen sie wieder Mal auf, die Verschwörungstheorien. Näselnde Schlagerfuzzis, Diätprediger, aber auch akademische Vertreter verbreiten sie auf Anti-Hygiene-Demos für Seltenduscher, Impfgegner und Aluhutträger. Dabei gab es sie schon immer, die Verschwörungstheorien. Ihre Blütezeit hatten sie im Mittelalter bis in die Neuzeit. Sie konnten aber auch gefährlich real werden, sie sind immer ein Spiel mit dem Feuer: Trauriges Beispiel sind die Juden, die als angebliche Brunnenvergifter Schuld an Pest und Cholera gehabt haben sollen.
Blueprint aller modernen Verschwörungstheorien ist ein dünner Roman eines Autors, der später durch dicke Wälzer berühmt wurde: „Die Versteigerung von No. 49“, erschienen 1965 (!) im Zeitalter der sogenannten Postmoderne. Im Vergleich mit den späteren Büchern quasi ein „Eilbrief“ an unseren Verstand (oder was noch davon übrig blieb). Autor ist Thomas Pynchon; um den sich übrigens auch sehr viele geheimnisvolle Mythen ranken.
Thema des Romans könnte das Bedürfnis des Menschen sein, auch komplizierte Zusammenhänge zu erkennen und möglichst zu verstehen, oder sie im Extremfall eben zu konstruieren. Das kann dann neben Erkenntnis und Orientierung auch in eine ausgewachsene Paranoia führen. Genau das erlebt die Hauptperson dieses Romans, Oedipa Maas (Achtung: Namenssymbolik, oder auch nicht).
Oedipa Maas wird Mitte der 1960-er Jahre zur Testamentsvollstreckerin ihres Liebhabers Pierce Inverarity bestimmt. Es handelt sich um ein beträchtliches Vermögen. Sie reist nach San Narciso in Kalifornien (ein Phantasiekonstrukt), der Homebase von Inverarity, um sich einen Überblick über seine Immobilien und Firmenbeteiligungen zu verschaffen. Im Zuge ihrer Recherchen stößt sie in Zusammenhang mit einer Briefmarkensammlung des Toten auf ein geheimnisvolles Symbol, eine Art Posthorn mit aufgesetztem Schalldämpfer. Nun hatte Oedipa als junge Frau eine Epiphanie im Joyceschen Sinne, also keine Offenbarung der göttlichen Macht und ihrer ewigen Wahrheit, sondern die plötzliche „Offenbarung der Washeit eines Dinges“. James Joyce: In einem mexikanischen Wandteppich sieht sie die Verwobenheit von allem mit allem und gewinnt den Glauben (sic), dass hinter der sichtbaren Wirklichkeit eine andere, geheime, unsichtbare steckt. Wir kennen das alle aus Spionagefilmen.
Oedipa glaubt, einer Geheimorganisation auf der Spur zu sein. Sie entdeckt Hinweise in denen der geheimnisvolle Name „Tristero“ eine zentrale Rolle spielt. Es handelt sich um ein anarchistisches Kommunikationssystem mit dem Namen W.A.S.T.E. (We Await Silent Tristero’s Empire), ein Underground-Postnetz, speziell für Menschen die kein Vertrauen in das staatliche Postmonopol haben.
Oedipa vermutet, dass die Wahrheiten über W.A.S.T.E. verbreitet werden und die Lügen, Intrigen und Abscheulichkeiten der Bevölkerung dem staatlichen Postsystem vorbehalten bleiben (Fake News und Lügenpresse lassen grüßen).
Oedipa forscht weiter und stellt fest: Tristero wurde als Organisation in Europa bereits in den turbulenten Jahren zu Beginn der Neuzeit (d.i. das auf das Mittelalter folgende Zeitalter, etwa ab 1500 bis Ende 19. Jahrhundert) gegründet, als Gegenpol, um dem Thurn & Taxis-Monopol der Briefzustellung entgegenzutreten. Der Kampf zwischen staatlichen Monopolisten und den alternativen Tristero-Rebellen zieht sich durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart.
„Anhänger von Verschwörungstheorien glauben, in einer bedrohlichen Welt zu leben.“ – Julia Becker, Professorin für Sozialpsychologie in Osnabrück
Der Roman gewinnt Tempo, plötzlich verschwinden immer mehr Menschen aus Oedipas Umfeld. Was ist noch Fiktion und was ist Wirklichkeit? Diese Unterscheidung verschwimmt immer mehr: Radiomoderatoren auf LSD, Musiker on dope, Rechtsanwälte wollen Schauspieler sein und Schauspieler wollen Rechtsanwälte spielen. Ein Amerika, das (wie bei Pynchon üblich) schlecht weg kommt – das alles erscheint uns aus heutiger Sicht sehr real.
Wie bei allen Werken der Verschwörungstheoretik gibt es keine Auflösung. Wie auch? Oedipa erhofft sich von der Versteigerung der Briefmarken („Lot 49“) Aufklärung. Die Briefmarken haben einen geheimnisvollen Kaufinteressenten angezogen, der seine Identität verbirgt, aber zur Auktion erscheinen will. Der Roman endet am Tag vor der Auktion. Vorher werden allerdings die schweren Tore und Fenster des Auktionsraumes geschlossen (!).
Man könnte es so deuten, dass Pynchon im Roman die Frage offen lässt, ob in „Die Versteigerung von No. 49“ eine Welt aus paranoider Sicht entworfen wird, oder aber, ob der Roman eine Welt darstellt, in der das Leben zwangsläufig zur Paranoia führt!
Fazit: Bleibt zuhause! Lest Pynchon!!
Thorsten Windus-Dörr
Jo. das stimmt. Ich finde einfach, dass die Versteigerung ein guter Einstieg für Pynchon wäre, immerhin hat es nur 125 Seiten. Auch Vineland ist allerdings meiner Ansicht nach noch eines der verständlichsten Pynchon-Werke. Ich würde es als zweites lesen. Die Parallelen sind in diesem Roman tatsächlich noch deutlicher.
Thorsten Windus-Dörr
Endlich schreibt Mal wieder jemand etwas über Pynchon. Dabei liegt das doch gerade sehr nahe. Aber warum reden Sie nicht über „Vineland“? Die Parallelen zur heutigen Situation in USA Ligen da doch viel näher, meinen Sie nicht?