Meine zweitälteste Tochter hatte als zweiten Job nach ihrem Studium des Modemanagements einen Vertrag als Dresserin auf einem Tui-Kreuzfahrtschiff in der Tasche. Ab Mai sollte es bis Oktober nach Skandinavien gehen, im Dezember sollte dann das Mittelmeer auf dem Programm stehen. Da sie zusammen mit ihrem Freund auf den Schiffen arbeiten sollte, der dort als Theateringenieur anheuerte, war das so etwas wie ein Traum.
Daraus ist ein Trauma geworden. Die Mai-Reise ist abgesagt und was im Dezember wird, das steht in den Sternen, beide bewerben sich jetzt anderweitig.
Nun, wir bei Eins A Kommunikation werden auch solche Bewerber bekommen, Corona-Opfer. Wenn ich diese Bewerber frage, was sie in der Corona-Zeit gemacht haben, was wird ihr „Narrativ“ sein?
Btw: Was bedeutet Narrativ? Es bezeichnet eine sinnstiftende Erzählung, die Einfluss hat auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Sie transportiert Werte und Emotionen und ist meist auf einen Kulturkreis beschränkt; deshalb lässt das Narrativ einer Gruppe auch unter Umständen Rückschlüsse auf den momentanen Zustand einer Gesellschaft zu. Achja: Außerdem ist es gerade ein schönes Buzzword*.
Erinnern wir Älteren uns an den 11. September 2001 als die Twin Towers zerstört wurden und Tausende Menschen ihr Leben verloren. Wir alle kennen diese Frage: „Weißt du noch, was du am 11. September gemacht hast?“
Ein Narrativ zu Corona also könnte sein: Wir haben es besiegt, aber um den Preis des Verlustes unserer persönlichen Freiheiten: Apps haben uns überwacht, der Datenschutz wurde aufgeweicht, Demonstrationen verboten. Es mag Menschen geben, die so empfunden haben.
Ein weiteres Narrativ ist weniger negativ (aber hoffnungslos): Die vielen Einschränkungen waren ja nicht nötig, es gab ja weniger Tote als bei der letzten Grippe. Jetzt sorgen wir dafür, dass alles wieder wird wie zuvor: Wir kaufen uns einen SUV und buchen eine Kreuzfahrt.
Ein Narrativ könnte auch das der Deppression sein: Leere Städte, man kann Freunde nicht treffen, Shopping nur über Amazon, Kommunikation nur über Skype und Zoom. Wer dieses Narrativ hat könnte überall daran leiden, auch an der Uni.
Mein Lieblingsnarrativ ist das des Umdenkens: Die narzisstischen Mächtigen haben ihre Unfähigkeit offenbart. Trump, Orban, Bolsonaro und (viel zu viele) mehr. Die Krise leitet ein Umdenken ein. Das neue Auto alle drei Jahre, ist das notwendig? – Brauchen wir dieses dauernde Remmidemmi von künstlichen Events; wäre Begreifen, Verstehen und Nach-Denken nicht wichtiger? – Nein, unser Lebensstil ist auf Dauer nicht durchzuhalten. Je sparsamer unsere Autos wurden, desto mehr fuhren wir. Wir trennen brav den Müll, produzieren aber immer mehr davon…
Es gibt sicher noch mehr davon, wir sind gespannt darauf.
Achja, zurück zu meiner Tochter, was ist ihr Narrativ? Sie hat Corona ernst genommen und sich an die Regeln gehalten, sie hat eine Weile ihrem Traum kräftig nachgetrauert. Dann hat sie ihre Nähkünste verbessert, da hatte sie noch eine Schwäche, vielleicht wird es ja doch noch etwas mit dem Dresser-Job. Sie hat ehrenamtlich im Tierheim ausgeholfen und von einer alten Nachbarin die Verantwortung für einen Berliner Hinterhofgarten „geerbt“ und eine kleine Gemüsezucht angelegt. Corona wird nicht das letzte sein, das ihre Generation an Katastrophen erlebt, sagt sie, darauf müssen wir uns vorbereiten. Und nach einer Weile der Trauer bewirbt sie sich jetzt wieder. „Ist schwer in diesen Zeiten, wird schon was klappen!“
Thorsten Windus-Dörr
Wer das Thema des Narrativs vertiefen möchte: Fritz Breithaupt, Kognitionswissenschaftler an der University Bloomington führt es in der „Zeit“ aus: https://www.zeit.de/2020/18/corona-krise-studierende-professoren-narrative
*To buzz: summen, brummen, murmeln, durcheinanderreden
(Windus-Dörr ist Geschäftsführer bei Eins A Kommunikation und immer auf der Suche nach neuen Buzzwörtern. „Narrativ“ ist gerade in aller Munde, aber was dahinter steckt kann man durchaus Ernst nehmen.)